Stolen Generations 1998

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Stolen Generations - In ganz Australien wurden Aborigines-Familien über mehrere Generationen hinweg systematisch ihrer Kinder beraubt

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Ausschnitt der "Great Australian Clock" am Queen Victoria Building in Sydney

Sybille Hohmann aus: pogrom 201/1998 01. März 1998

Australien wird derzeit mit einem traurigen Kapitel seiner Geschichte konfrontiert: dem gewaltsamen Herausreißen von Kindern und Säuglingen der Aborigines und Torres Strait Islander aus ihren Familien seit Beginn der Kolonialzeit. Mehrere der Ureinwohner Australiens wurden in staatliche oder kirchliche Obhut gegeben, in Pflegeheimen und -familien untergebracht oder zur Adoption freigegeben. Sie verloren ihre Kultur, die familiäre Geborgenheit, ihr Land und ihre Identität. Ihre Namen wurden geändert. Der Kontakt zu leiblichen Angehörigen wurde ihnen verwehrt. Geschwister wurden getrennt. Pflegschaften oder Adoptionen wurden in aller Regel nur in "weiße" Familien vermittelt. Ob in Heimen oder Missionen, in Pflege- und Adoptivfamilien - fast immer wurden die Aborigine-Kinder auch psychisch, physisch und sexuell missbraucht. "Es war, als würden wir auf dem Markt feilgeboten. Wir waren alle in weißen Kleidern in einer Reihe aufgestellt und sie gingen umher und suchten dich aus, als wenn du zu verkaufen wärst", berichtet eine Frau, die noch in den 70er Jahren als 10jährige in eine Pflegefamilie kam. Auch ihre 13 Geschwister wurden den Eltern weggenommen. Sie selbst wurde vom Pflegevater vergewaltigt und zur Abtreibung gezwungen.

Vor 1940 hatten Regierungsbehörden in ganz Australien uneingeschränkte Macht über die Aborigine-Familien. Sie konnten die Trennung eines Kindes von seinen Angehörigen einfach anordnen. Man glaubte damals, dass die Aborigines zum Aussterben verdammt seien. Chancen zur Assimilation gab man nur Kindern aus gemischten Beziehungen, deren Anteil an der Gesamtgruppe ab Ende des 19. Jahrhunderts stark zugenommen hatte. Da diese "europäisches Blut" in sich trugen, wurde ihnen ein Platz am untersten Rand der weißen Gesellschaft zugestanden. Sie sollten den Arbeitsmarkt mit billigen Arbeitskräften versorgen. Kinder gemischter Herkunft standen folglich im Mittelpunkt des Interesses auch beim Kindesentzug. Je heller die Haut, um so größer war das Risiko, geraubt zu werden.

Ab 1940 wurde durch das "Allgemeine Kinderfürsorge Gesetz" (General Child Welfare Law) der Nachweis von Vernachlässigung, Verelendung oder Unkontrollierbarkeit der Kinder notwendig. Die allgemeinen Lebensverhältnisse der Aborigines zu verbessern, um den Familienzusammenhang zu erhalten, erwog der Staat damals offenbar nicht. Statt dessen wurden die Maßstäbe der "weißen" Gesellschaft zum einzigen Kriterium für den Raub der Kinder gemacht. Der Begriff der "Vernachlässigung" wurde zum gesetzlich legitimierten Instrument für einen weiterhin ungehemmten Kindesraub. "Sie glaubten", so ein Mann, der in den 50er Jahren mit seinen drei Geschwistern der Mutter weggenommen wurde, "dass wir hungerten, was nicht stimmte, weil meine Mutter niemals in ihrem Leben Geld für Alkohol ausgegeben hat. Sie kümmerte sich um uns, hat uns Essen gegeben und uns sauber gehalten. Nur weil sie nicht verheiratet war, wollten sie uns wegholen." Das Verbringen von Kindern aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in eine andere mit dem Vorsatz, sie außerhalb und ohne Zugang zu ihrer eigenen Kultur aufwachsen zu lassen, verstößt gegen die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948, die Australien 1949 unterzeichnet und 1951 ratifiziert hat. Australien hat also bis in die 70er Jahre hinein gegen von ihm selbst anerkanntes Internationales Recht verstoßen. Da sich diese Praxis nur gegen Aborigine-Kinder richtete, wurde außerdem das Internationale Verbot der Rassendiskriminierung verletzt. Erst unter der Regierung Witlam wurde den Aborigines ab 1972 die Möglichkeit eröffnet, mit Hilfe des Aboriginal Legal Service gegen den Kindesentzug vorzugehen. In den 90er Jahren begannen Angehörige der "Stolen Generations" dann, vor Gericht um Wiedergutmachung zu klagen. Wie viele Generationen von Kindern ihren Eltern und damit der Aborigine Gemeinschaft geraubt wurden, ist nicht bekannt. Viele Akten sind verschwunden oder zerstört. Man geht von ca. 100.000 Kindern zwischen 1910 und 1970 aus. Fast jede Aborigine-Familie ist in einer oder mehreren Generationen vom Raub eines oder mehrerer Kinder betroffen. Weil die Angehörigen meist jede Verbindung zueinander verloren haben, wurden 1980 die Organisation "Family Tracing" (Familienforschung) und die Agentur für Familienzusammenführung "Link-Up" gegründet. Inzwischen kamen in allen Teilen Australiens zahlreiche ähnliche Organisationen hinzu. Sie können nur unter Schwierigkeiten arbeiten, denn die noch vorhandenen Akten sind über zahlreiche Archive verstreut. Lange zurückliegende Ereignisse können oft nicht mehr rekonstruiert werden, weil die Zeitzeugen längst verstorben sind. Die Folgen der gewaltsamen Trennung haben bei den heute erwachsenen Kindern und bei ihren Familien tiefe seelische Wunden verursacht. Eltern leiden an Selbstvorwürfen, ihre Kinder daran, ohne Liebe und kulturelles Zugehörigkeitsgefühl aufgewachsen zu sein. Sie fühlen sich weder der Aborigine-Gemeinschaft noch der weißen Gesellschaft zugehörig. Ihrer Sprache und ihres kulturellen Wissens wurden sie beraubt, konnten in die Gemeinschaft ihres Volkes nicht hineinwachsen. So können sie auch an ihre eigenen Kinder oft keine sozialen und emotionalen Werte vermitteln. Das Leid wird von Generation zu Generation weitergegeben.

Erst 1997 fand die Geschichte der "Stolen Generations" in der australischen Öffentlichkeit endlich die ihr gebührende Beachtung. Die "Kommission für Menschenrechte und Gleichberechtigung" (HREOC) veröffentlichte im Mai einen 700 Seiten starken Report mit Berichten von Zeitzeugen, Analysen über die Folgen der Zwangsentziehung für die betroffenen Kinder, ihre Familien und die gesamte Aborigine-Gemeinschaft und Vorschlägen für Wiedergutmachung sowie Hilfen für eine Wiedervereinigung der Familien. Den Auftrag dazu hatte sie noch von der 1996 abgewählten Labour-Regierung erhalten. Die Kommission spricht sich u. a. für die Einrichtung eines Entschädigungsfonds durch die Regierung, für eine nationale Gesetzgebung, die den Aborigines in Fragen der Fürsorge, Polizei, und Jugendangelegenheiten Selbstbestimmung ermöglicht, und für eine offizielle Entschuldigung der Regierung gegenüber den Opfern und ihren Familien aus. Entschuldigt hat sich bislang jedoch nur die Anglikanische Kirche Australiens, der jeder vierte Staatsbürger angehört. Auch sie war am Kindesentzug beteiligt, stellte Unterkünfte, Bildungseinrichtungen und Arbeit für die gestohlenen Kinder zur Verfügung.

Am 26. Mai 1998 wurde erstmals in ganz Australien ein "Sorry Day" (Tag des Bedauerns) begangen. Als Geste der Entschuldigung wurden Vertretern der Aborigines Bücher mit ca. 500.000 Unterschriften und Gedanken australischer Bürger überreicht. Die Regierung allerdings hat sich bislang beharrlich geweigert, ihren Bürgern zu folgen und sich offiziell bei den Ureinwohnern Australiens zu entschuldigen.


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